Interview

„Corona hat für absurde Situationen gesorgt“

Interview mit Christina Keller und Peter Bichler vom Jugendmigrationsdienst des Caritasverbandes Freiburg-Stadt e. V.

Freiburg. Sie begleiten junge Migrantinnen und Migranten dabei, sich in unsere Gesellschaft zu integrieren. Sie arbeiten präventiv für eine offene und pluralistische Gesellschaft und wirken Ausgrenzung und Rassismus entgegen. Anlässlich des bundesweiten Aktionstags der Jugendmigrationsdienste (JMD) am 30. Juni sprachen wir mit Christina Keller und Peter Bichler vom Jugendmigrationsdienst des Caritasverbandes Freiburg-Stadt e. V., einem von rund 500 Jugendmigrationsdiensten bundesweit, über ihre Arbeit.

Peter Bichler (37) ist Sozialarbeiter und seit 2019 Leiter des JMD mit vier Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Caritasverbandes Freiburg-Stadt e. V.
Christina Keller (29) hat Soziale Arbeit studiert und ist seit 2019 Mitarbeiterin des JMD des Caritasverbandes Freiburg-Stadt e. V.

Die Redaktion: Frau Keller und Herr Bichler, Sie beide haben zuvor bereits in der Jugendhilfe und mit jungen Migrantinnen und Migranten gearbeitet. Inwiefern unterscheidet sich Ihre Arbeit beim JMD von Ihrer bisherigen Berufserfahrung?
Christina Keller: Ich war vorher in einer Inobhutnahmegruppe für Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge beschäftigt. Da ging es darum, die jungen Menschen ganz konkret darin zu unterstützen, ihren Alltag zu gestalten; Hilfe bei Schulangelegenheiten zu leisten, Arztbesuche zu koordinieren, gemeinsam zu kochen, den Haushalt zu führen, solche Dinge.
Bei der Arbeit beim JMD steht die individuelle Beratung der jungen Menschen, die unsere Hilfe suchen, im Mittelpunkt. Wir helfen bei bürokratischen Angelegenheiten, bringen Anträge auf den Weg, helfen bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz, einem Schulplatz oder einem passenden Sprachkurs. Es geht eigentlich immer darum, auch perspektivisch den Verlauf der Integration durchzudenken und anzubahnen. Gleichzeitig vernetzen wir uns mit anderen Akteuren der Migrationsarbeit und arbeiten Hand in Hand mit ihnen.
Peter Bichler: Ich komme aus der Kinder- und Jugendhilfe und habe zuvor auch mit minderjährigen Geflüchteten gearbeitet. Die Arbeit beim JMD baut auf diesen Erfahrungen auf und ist dabei auf die migrationsbezogenen Aspekte spezialisiert. Zu uns kommen zum Beispiel viele Careleaver, also junge Menschen, die das System der Jugendhilfe aus Altersgründen verlassen haben, und dann auf sich allein gestellt sind, aber weiterhin noch Unterstützung benötigen.
Wir beraten grundsätzlich alle Migrantinnen und Migranten in der Altersspanne zwischen 11 und 27 Jahren, unabhängig von Herkunft und Aufenthaltstitel. Übrigens ist das Merkmal „geflüchtet“ keine Voraussetzung dafür, sich an den JMD zu wenden. Bei uns melden sich auch Studierende aus dem Ausland, junge Menschen im Freiwilligendienst oder junge Erwachsene, die an einem Au-Pair-Programm teilnehmen.
Das Spezifische unserer Arbeit ist, dass sie unspezifisch ist. Das heißt, so verschieden wie die Menschen sind, so unterschiedlich ist auch die Arbeit mit ihnen, die aufenthaltsrechtlichen Rahmenbedingungen und die Aufgaben und Herausforderungen, die sich für uns daraus ergeben.

Die Redaktion: Apropos Herausforderungen…Wie hat Corona Ihre Arbeit verändert?
Christina Keller: Corona hat uns und unsere Klientinnen und Klienten vor große Herausforderungen gestellt. Unsere Beratung hat sich nachhaltig verändert. Wir haben so schnell es ging auf digitale Beratungsformen umgestellt. Durch eine Förderung durch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend haben wir Notebooks angeschafft und konnten dann auch im Homeoffice arbeiten und den Kontakt zu den jungen Menschen halten.
Die Onlineberatung wird zwar langfristig ein festes Element unseres Beratungsdienstes bleiben, sie ersetzt aber natürlich nicht den persönlichen Kontakt. Es ist uns wichtig, zu unseren Klientinnen und Klienten eine persönliche Beratungsbeziehung zu gestalten und sich im persönlichen Gespräch zu begegnen.
Andererseits gibt es Menschen, die die Anonymität einer Onlineberatung sehr schätzen.
Eine Hürde war auch, dass viele junge Migrantinnen und Migranten zwar ein Smartphone haben und auch sehr firm sind im Umgang mit Videotelefonie aber gar keine Laptops besitzen. Wir konnten über eine gemeinnützige Organisation Laptops beantragen und so einige der jungen Menschen beim Homeschooling unterstützen.
Peter Bichler: Die technische Ausstattung für jungen Migrantinnen und Migranten ist wichtig, aber eben auch nicht alles. Viele von ihnen haben uns frustriert berichtet, dass sie in den Online-Sprachkursen nichts mehr dazu lernen und sie Angst haben, dass ihre Defizite größer werden und sie es noch schwerer haben werden, eine Arbeit zu finden, auf eigenen Beinen zu stehen, sich zu integrieren. Auch wenn digitale Lösungen aus unserer Arbeit nicht mehr wegzudenken sind, ist gerade für unsere Zielgruppe wie ja auch generell für den Großteil der Gesellschaft persönliche Begegnung und Austausch etwas, das im letzten Jahr enorm gefehlt hat. Im Hinblick auf Schule und Lernen erkennen wir die Auswirkungen schon jetzt, sind aber auch sicher, dass viele Entbehrungen und ihre Folgen erst mit Verzögerung auftreten.

Die Redaktion: Was sind die größten Sorgen und Ängste der Menschen, mit denen Sie in Kontakt sind.
Peter Bichler: In jedem Termin werden Zukunftsängste geäußert. Corona hat für absurde Situationen gesorgt. Botschaften mancher Länder waren zum Teil geschlossen oder es ist ungewiss, wie man dort jemanden erreichen kann und wann mit einer Öffnung zu rechnen ist. Das ist ein Problem für alle, die konsularische Dienste in Anspruch nehmen müssen. Urkunden und Pässe konnten nicht ausgestellt oder verlängert werden. Im aufenthaltsrechtlichen Kontext ist man aber genau auf diese Unterlagen angewiesen. Ebenso problematisch wird es, wenn etwa die Beschäftigung in der Gastronomie wegfällt, für die Aufenthaltserlaubnis aber ein gedeckter Lebensunterhalt nachgewiesen werden muss. Akute Geld- und Zukunftssorgen und dazu noch die Unsicherheit, nicht zu wissen, wann sich Abläufe im Herkunftsland und auch hier in Deutschland wieder normalisieren… Das sind große Belastungen für unsere Klientinnen und Klienten. Hinzu kommen natürlich noch Sorgen um Familienmitglieder in der Heimat. Corona wirkt wie ein Brennglas auf Problemfelder, die vorher schon da waren und die nun deutlicher zu Tage treten.

Die Redaktion: Das klingt sehr frustrierend. Wie können Sie vom Jugendmigrationsdienst in solchen Situationen helfen?
Christina Keller: Wir haben in diesem verrückten Jahr mehrfach die Erfahrung gemacht, beraterisch nicht weiterzukommen, quasi hilflose Helferinnen und Helfer zu sein. Es gibt aber auch immer wieder positive Rückmeldungen und Erfolge. Ein verstärkter Fokus auf diese Erfolge spornt uns an und gibt Kraft, Hilflosigkeit auszuhalten. Viele haben sich einfach gefreut, dass wir trotz Corona da und erreichbar sind und sie sich mit ihren Sorgen an uns wenden können.
Auch Solidarität unter den Menschen haben wir erlebt; Vermieter, die bereit waren, auf einen Teil der Miete zu verzichten. Junge Menschen die sich gegenseitig ermutigen und unterstützen, nicht zuletzt natürlich auch Ehrenamtliche, die trotz fundamental anderer Rahmenbedingungen digitale Lernbegleitung anbieten. Und trotz Corona gab und gibt es auch Erfolgserlebnisse; junge Menschen, die ihre Ausbildung abgeschlossen haben, andere, die wir in Stellen vermitteln konnten, Aufenthaltserlaubnisse, die aufgrund sehr guter Integration ausgestellt wurden.
Viele junge Menschen sind in den vergangenen Monaten in ihrer Selbständigkeit gewachsen, haben selbst Termine koordiniert, Formulare und Anträge ausgefüllt.
Peter Bichler: Wir haben in unserer Zielgruppe eine besondere Vulnerabilität, aber auch eine sehr hohe Resilienz beobachten können. Für nicht wenige ist ja der Ausnahmezustand, den breite Teile der Bevölkerung seit Corona erleben und der mit Ungewissheit, Sorgen und zusätzlichen Belastungen einhergeht, ein Zustand, dem sie seit mehreren Jahren ausgesetzt sind. Einige gehen sehr besonnen und verantwortungsbewusst mit der Situation um und haben dadurch ihr Ziel, sich in Deutschland zu integrieren, viel klarer vor Augen.

Die Redaktion: Und wie haben Sie sich als Team in der Zeit wahrgenommen?
Christina Keller: Wir konnten und können uns aufeinander verlassen, sind als Team noch mehr zusammengewachsen und motiviert. Wir arbeiten noch mehr Hand in Hand, stimmen uns ab, teilen uns auf, wer von zu Hause arbeitet und wer Ansprechperson vor Ort ist.
Peter Bichler: Trotz der täglichen Herausforderungen, erleben wir unsere Arbeit als bereichernd. Und ein richtig gutes und solidarisches Team zu haben, trägt auf jeden Fall dazu bei.

Die Redaktion: Frau Keller und Herr Bichler, ich danke Ihnen für das Gespräch.


HINTERGRUND

Jugendmigrationsdienst
Der Jugendmigrationsdienst berät, begleitet und unterstützt zugewanderte junge Menschen in Freiburg im Alter von 12 bis 27 Jahren auf ihrem Weg der sprachlichen, schulischen, beruflichen und gesellschaftlichen Integration. Bundesweit gibt es über 400 Jugendmigrationsdienste.
Im Jahr 2020 wurden insgesamt 467 junge Menschen vom JMD des Caritasverbandes Freiburg-Stadt e. V. beraten. Eine Begleitung im Case Management (d. h. mindestens 5 Termine) erfolgte in 221 Fällen. Außerdem fanden 246 Beratungen zwischen einem und fünf Terminen statt. Für dieses Jahr zeigt die Auswertung der Falldokumentationen bereits jetzt ein höheres Fallaufkommen als noch im letzten Jahr zur gleichen Zeit. Der Jugendmigrationsdienst des Caritasverbandes Freiburg-Stadt ist im Franz-Hermann-Haus untergebracht.
Ansprechpartner:
Peter Bichler
(07 61) 79 03-2112

Franz-Hermann-Haus
Im Franz-Hermann-Haus bündelt der Caritasverband Freiburg-Stadt e. V. verschiedene umfassende Beratungsangebote für Menschen mit Migrationshintergrund jeden Alters und unabhängig von Aufenthaltsstatus und Herkunftsland. Darüber hinaus dient das Haus als Begegnungsstätte für Gruppen, und es werden von hier aus verschiedene interkulturelle und sportliche Angebote organisiert. Die Mitarbeitenden der Einrichtung beraten und begleiten zudem Ehrenamtliche.
Ansprechpartner:
Peter Schneider-Berg
Sundgauallee 8
79110 Freiburg
(07 61) 79 03-2118

Freiburg, 25.06.2021

Redaktion:
Nora Kelm, Pressesprecherin
(07 61) 319 16-39
nora.kelm@caritas-freiburg.de
www.caritas-freiburg.de

Fotos:
Portrait Peter Bichler (Ingeborg F. Lehmann)
Christina Keller am Arbeitsplatz (Peter Bichler)
Außenfassade Franz-Hermann-Haus (Ingeborg F. Lehmann)